Vorwort

Die Frage, ob der Mensch nun einen autonomen freien Willen hat oder nicht, ist seit Jahrhunderten ein zentraler Diskussionspunkt zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Allerdings: Wenn ich Bekannte frage, sind sie ohne Ausnahme von der Freiheit ihres Willens überzeugt. Ist der Widerspruch gegen dieses allgemeine Votum nur eine Spitzfindigkeit der Neurowissenschaft? Oder gar ein Fehlschluss?

Mich hat die Frage als Student gelegentlich beschäftigt. Damals machte mein Vater mit mir meist am Sonntagnachmittag einen langen Waldspaziergang. Ausführlich pflegten wir Probleme, die in der Woche aufgefallen waren, zu diskutieren, und so auch dieses. Mein Vater, der neben seiner Zoologie auch Philosophie studiert hatte, verteidigte eine metaphysische Sphäre im Menschen. Ich argumentierte aus der Warte des Medizinstudenten wohl etwas hart, wenn ich dem gegenüber den Menschen samt seinem Denken und Fühlen als das ausschließliche Produkt der Evolution sah.

Später in meinem Beruf als Chirurg blieb ich einfach dabei, die mechanistische Theorie von der Funktionsweise der inneren Organe, mit denen ich es zu tun hatte, auf den ganzen Menschen und damit auf alle Hirnfunktionen auszudehnen. Zwar ist es eine besonders wichtige Grundregel für den Arzt, den persönlichen Willen eines jeden Patienten zu achten und zu berücksichtigen, aber beim Aufklärungsgespräch, das dieser Willensbildung vorausgeht, geht es meistens um Sachfragen: Warum bin ich krank geworden? Welche Folgen wird die Krankheit haben? Was bewirkt die Therapie Gutes oder möglicher Weise auch Nachteiliges?

Es geht um Ursachen und Wirkungen, auch bei der Berücksichtigung der Gefühle des Patienten. Die Entscheidung des Kranken beruht selbst bei existentiellen Perspektiven wie Gesundheit oder Tod ganz offensichtlich auf der Abwägung von Argumenten. Diese Abwägung kann äußerst schwierig sein. Nicht selten sind alle sich ergebenden Alternativen für den Kranken gleich ungünstig, die Risiken möglicher Strategien sind häufig so schwer zu kalkulieren, dass angesichts des Dilemmas selbst für den Fachmann guter Rat sehr schwierig ist. Gerade bei schweren Entscheidungen ist der freie Wille keine Option. Der Patient kann dann eigentlich nur darüber entscheiden, ob er dem ratgebenden Arzt, also dem Fachmann vertrauen will oder nicht.

Erst heute im Ruhestand, in dem ich mich ausführlich mit der Emotionspsychologie beschäftige, wurden für mich Fragen nach dem Selbst, dem Bewusstsein und auch bezüglich der Entscheidungsfindung wieder aktuell. Unverändert bin ich überzeugt, dass der Mensch keinen freien Willen haben kann.

Aber warum betone ich das? Warum ist die Frage nach dem freien Willen überhaupt wichtig? Warum kann oder muss man ihn ablehnen? Ist das ein rein theoretischer Disput, oder hat der freie Wille Konsequenzen?

Die in den Neurowissenschaften heute vielfach vertretene Ablehnung der Idee eines autonomen Willens steht im Gegensatz zur Lehrmeinung der Philosophie, der Moraltheologie und der Mehrheit der Juristen. Dieser Gegensatz beruht ganz wesentlich auf der Einstellung zur Kausalität. In der gesamten Naturwissenschaft gilt (mit gewisser Einschränkung in der Quantenphysik), dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt. Und da die Naturwissenschaftler der Überzeugung sind, dass alles und jedes in der Welt und selbst im Weltall von ihnen untersucht und vermessen werden könnte, beruht aus ihrer Sicht alles Geschehen in dieser Welt auf Kausalität. Der Mensch ist so eindeutig in die Natur dieser Welt und damit in die Naturgesetze eingebunden, dass auch jede Funktion seines Gehirns der Kausalität, die in dieser Welt herrscht, unterliegt: jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Nervenimpuls, und eben auch das Wollen.

Für die Geisteswissenschaften jedoch ist diese Kausalität der physischen Welt kein Gesetz, sondern eine Erfahrung, nur ein Sonderfall, wenn man die Kausalität nicht überhaupt aufgrund logischer Ableitungen infrage stellt. Die großen Denker der Antike gingen fast alle von der Existenz einer zweiten größeren metaphysischen Welt ohne eine beengende Kausalität aus. In dieser, dachte man, sind die Götter und andere Geisteswesen, die Seele, die Ideale, oft die großen Gedanken und gelegentlich die Gefühle angesiedelt. Der Mensch hat also irgendwie Anteil an ihr. Die Teilhabe an der metaphysischen Welt jedenfalls beim Denken wird als entscheidendes Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber den anderen Kreaturen in der realen (physischen) Welt angesehen. Seine Gedanken sind frei (jeder kann das so empfinden), und aus dieser Freiheit folgt die Freiheit des Willens.

Im Alltag empfindet der Mensch immer wieder den Erfolg seiner freien Entscheidungen. Nehmen wir zum Beispiel jenen jungen Mann, der seine Freunde zu einer Wanderung am Sonntagmorgen überredet hat. Die meisten hatten zunächst keine Lust gehabt. Nachträglich sind jetzt alle froh, doch mitgegangen zu sein. Die Stimmung war bestens, und das Wetter war entgegen der Voraussage schön. Der Initiator denkt zurück an den Tag zuvor, wie er da überredet und organisiert und sich sonst bemüht hat. Er hat nun das Gefühl, dass es sehr gut war, dass er die spontane Idee hatte, aus einer Laune heraus, einfach so. Er hielt es für sein Verdienst, er hat es so gewollt. Er sah keinen anderen Grund. Er hatte plötzlich diesen Einfall gehabt, und dann war es seine Entscheidung gewesen, gerade so zu handeln, seinen Willen durchzusetzen.

Wir werden ausführlich darüber sprechen, ob es ein Irrtum ist – manche sprechen von einer Illusion – wenn dieser junge Mann glaubt, dass er frei entschieden und gewollt hat. Wir werden überlegen, wie dieser Irrtum zustande kommt, und wofür er gut und wichtig ist. Zunächst komme ich noch einmal auf die eben skizzierte dualistische Weltanschauung zurück. Für sie haben die erstarkenden Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten zwei Probleme gebracht, die uns hier interessieren.

Zum einen besagen die gefundenen Naturgesetze, dass die reale Welt ein in sich geschlossenes System ist, beispielsweise hinsichtlich der Erhaltung der Energie. Von außen, also zum Beispiel aus einer metaphysischen Gedankenwelt kann keine zusätzliche Energie hineingebracht werden. Ein Freier Wille aus der metaphysischen Welt könnte von dort keine zusätzliche Energie in die physische Welt einbringen, wenn er in ihr etwas bewegen wollte. In der realen Welt selbst ist aber kein freier, also von Ursachen unabhängiger Wille (der selbst aber eine Ursache wäre) denkbar.

Zum anderen scheint die schon angesprochene Kausalität den sogenannten Determinismus zu bedingen. Er besagt, dass mit der Kausalität nicht nur das Entstehen aller gegenwärtigen Zustände erklärt werden kann, sondern dass dann natürlich auch für alles Künftige die Gesetze von Ursache und Wirkung gelten. Und dann wäre das ganze Geschehen der Zukunft unerbittlich aus den Ursachen, die heute gerade bestehen, Schritt für Schritt festgelegt.

Diese Konsequenz der Kausalität, also der Determinismus wird nur von wenigen rückhaltlos akzeptiert – selbst unter denjenigen, die an einer Diskussion der Frage des freien Willens überhaupt interessiert sind. Alles Geschehen wäre damit schon vorbestimmt, ehe es überhaupt stattgefunden hat. Verantwortungsbewusste Menschen stemmen sich gegen die Vorstellung, dass dann eigentlich alles Bemühen sinnlos ist. Apathie wäre die Folge. Es käme dann ja ohnehin so, wie es die Abfolge der Kausalitäten bedingt. Ein allwissender Weltgeist im Sinne des Laplace'schen Determinismus könnte schon heute alle zukünftigen Geschehnisse wissen, er würde über unsere Anstrengungen lächeln.

Die Diskussion wird sicher seit Jahrhunderten und auch heute noch auch deswegen so leidenschaftlich geführt, weil die Unfreiheit des individuellen Willens und dessen Abhängigkeit von der Kausalität nicht dem alltäglichen Empfinden der Menschen entspricht, übrigens auch nicht dem meinen. Aber seit ich mich in der Emotionspsychologie etwas besser auskenne, hat der Determinismus für mich seinen Schrecken verloren. Jetzt finde ich das Problem im Gegenteil faszinierend, und ich sehe keine Probleme mehr mit einem konsequenten naturwissenschaftlichen Realismus.

Warum nicht mehr? Nun, die Leserinnen und Leser, die sich für intelligent halten, mögen einmal ganz unvoreingenommen überlegen, was sie wählen würden, wenn sie bei voller Akzeptanz der Kausalität für sich selbst eine Strategie entwickeln dürften, mit der sie unter dieser Kausalität am besten überleben könnten.

Wahrscheinlich haben Sie nicht die Muße, das Buch zur Seite zu legen und nachzudenken. Tun wir es gemeinsam: Sehr oft gibt es vielerlei Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen. Sie würden sich sicher einen Mechanismus wünschen, der (natürlich ebenfalls streng nach den Gesetzen der Kausalität konstruiert) Ihnen immer dann, wenn es mehrere einwirkende Ursachen gibt, diejenigen heraussucht, die für Sie persönlich am günstigsten sind! Nun, genau das machen alle Tiere, die ein einigermaßen leistungsfähiges Gehirn haben. Und der Mensch mit seinem Hochleistungsgehirn ist natürlich der unangefochtene Meister. Er hat nahezu freie Wahl bei seinem Handeln. Ich will Ihnen das möglichst verständlich erklären.

Allerdings muss ich wohl in einem einführenden ersten Kapitel zunächst meine naturalistische, also kausalitätsbasierte Sicht näher begründen. Andererseits werde ich wenigstens einige wichtige Argumente der Befürworter einer metaphysischen, also nicht durch die Naturwissenschaften erklärbaren Freiheit für menschliches Wollen und Handeln erwähnen. Man wird mir hoffentlich nachsehen, dass ich diesen Überblick aus der Perspektive der Neurowissenschaften und nur bezüglich der mir wesentlichen Punkte darstellen werde. Wer sich tiefer einlesen möchte, mag die vielseitige Aufsatzsammlung "Freier Wille – frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit" von H. Fink und R. Rosenzweig zur Hand nehmen. Dort findet er auch reichlich weiterführende Literatur.

Wir werden in Kapitel 2 einige Hintergründe ansprechen, zum Beispiel, dass eine Jahrtausende alte Denktradition der Philosophie davon ausgeht, dass der Mensch diesen freien Willen haben muss. Die Versuchung ist groß, sich derartigen metaphysischen Weltentwürfen anzuschließen, weil der Mensch dadurch als etwas Besonderes aus der übrigen mechanistischen Welt mit ihren engen Gesetzmäßigkeiten herausgehoben wird. Seine ohnehin schon gewaltige Denkkraft wird gebührend bewertet, denn sie befähigt ihn zu Besserem. Er erhält einen Anteil an einer höheren, übernatürlichen, ja sogar göttlichen Welt. Der Determinismus wird als Angriff auf diese metaphysische Wertigkeit des Menschen gesehen (B. Kanitscheider). Auf Einzelheiten diesbezüglicher Theorien werde ich nicht eingehen. Sie füllen ganze Bibliotheken. Ich werde sie nur insoweit behandeln, als an dieser jenseitigen Teilhabe des Menschen meistens auch die Idee der Verantwortung zum ethischen Verhalten und letztlich eben auch die Freiheit des Willens festgemacht wurden.

In Kapitel 3 möchte ich grundsätzliches Verständnis dafür wecken oder festigen, dass die Naturwissenschaften inzwischen derartig viele Kenntnisse über den Aufbau des Gehirns und über seine Funktionen zusammengetragen haben, dass man unterstellen darf, dass alles, was im Gehirn geschieht, sogar das abstrakte Denken und die virtuelle Vorstellung letztlich auf "simplen" biochemischen oder bioelektrischen Mechanismen beruht. Damit unterliegt alle Gehirnaktivität der Kausalität. Im übrigen werden in Kapitel 3 die Grundlagen derjenigen Gehirnfunktionen geschildert, die für das Verständnis meiner Erörterungen von Vorteil sind.

In Kapitel 4 werde ich aber Beweise anführen dafür, dass der Mensch keineswegs bedauernswert ist, wenn er im Lichte der Naturwissenschaft dieser Kausalität mit all seinen geistigen Kräften ausgeliefert ist. Er ist keineswegs ihr Spielball. Ich behaupte, dass das System der Kausalität keineswegs so trostlos ist, wie es zunächst erscheint. Meine Begründung dafür, dass wir zwar keinen radikal freien, aber immerhin einen eigenen Willen im Rahmen der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten haben, beruht in erster Linie auf der Emotionspsychologie, mit der ich mich seit vielen Jahren beschäftige.

Wir erkennen, dass die Menschen, ja überhaupt alle Organismen mit leistungsfähigen Gehirnen nicht einfach starre Rädchen in einer sturen Weltmaschinerie sind. Gehirne besitzen Mechanismen, mit denen sie – ihrerseits streng nach den Gesetzen der Natur – unter Kausalitäten auswählen können. In Kapitel 4 lernen die Leser also jene "Ursachenauswählmechanismen" kennen, die sie sich vorher gewünscht haben. Dabei geht es immer um den eigenen Vorteil. Dieser "institutionalisierte Egoismus" ermöglicht den Lebewesen, persönliche Chancen zu nutzen, das eigene Schicksal zu optimieren.

Mit Hilfe von (emotionalen) Bewertungsmechanismen können alle höheren Tiere diejenigen Kausalfaktoren bevorzugen, die ihnen vermehrte Überlebenschancen zu versprechen scheinen, und können Gefahren meiden. Sie unterliegen dann zwar auch der Kausalität, aber sie benutzen eine für sie vorteilhafte Konstellation derselben. Darüber hinaus kann der Mensch im Vorhinein abwägen, welche Kausalattributionen ihm welchen Nutzen oder welche Risiken bringen dürften. Sein Gehirn besitzt "Schaltungen", die auf diese Weise gezielt diejenigen Gesetzmäßigkeiten bevorzugen, von denen seine Vorauskalkulationen verbesserte Chancen verheißen. Derartige konstruktive Besonderheiten seines Gehirns haben ihm erlaubt, fast die ganze Erdoberfläche aktiv zu seinem vermeintlichen Vorteil zu verändern. Diese erstaunlichen Konstruktionsmerkmale des menschlichen Gehirns dürften jetzt zur Ursache einer kaum mehr aufzuhaltenden Naturkatastrophe werden.

Freilich, auch das muss man in der Summe als eine determinierte Systementwicklung unserer Welt sehen. Aber das spezielle "System Gehirn" läuft nicht einfach automatisch ab. Insbesondere die Antriebe der intrinsischen Motivation erzwingen, dass das einzelne menschliche Individuum aktiv denken und handeln muss. Das persönliche Bemühen des einzelnen Individuums ist vorgegeben als eine der Grundeigenschaften des Systems. Wir könnten grundsätzlich nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Wir müssen die Naturgesetze (zum Beispiel bezüglich des Überlebens des Fittesten) erfüllen, und zu denen gehört, dass wir uns anstrengen. Und wenn wir schon mitmachen, dann sollten wir das Ganze als ein interessantes Geschehen betrachten, zu dem ja schließlich auch (als ebenfalls phylogenetisch entwickelte Belohnung) Erfolgserlebnisse und Lebensqualität gehören.

Die naturwissenschaftlich begründete Akzeptanz der Derterminiertheit entspricht, wie gesagt, nicht dem alltäglichen Empfinden der Menschen. Ich möchte dieses Empfinden in Kapitel 5 zu erklären versuchen. Wir werden erkennen, dass es Vorteile für das Selbstwertgefühl bringt, und dass auch die Gesellschaft davon profitieren kann, dass der Mensch sich diesem Irrtum hingibt, er habe einen freien Willen.

Das Gefühl, einen freien Willen zu haben, wird Anlass sein, in Kapitel 6 überhaupt die Funktion von Gefühlen zu besprechen. Wir kommen dadurch zu Erkenntnissen, die ähnlich sind wie sehr aufregende Experimente von Libet et al., die zu der Hypothese führten, dass Willensäußerungen nicht primär vom Bewusstsein selbst ausgehen. Wir werden also zur Vorstellung kommen, dass das Bewusstsein über unbewusste automatische Willensäußerungen im Gehirn informiert wird. Im Vorstellungsraum des Bewusstseins kann dann geplant und beurteilt werden. Die für die Entscheidungen selbst notwendigen Berechnungen werden offenbar von tieferen Ebenen des Gehirns ausgeführt.

Ich finde es faszinierend, was sich "das Leben" alles hat einfallen lassen, um die sture Kausalität der Naturgesetze ihren Bedürfnissen anzupassen. Ich lade die Leserinnen und Leser ein, sich vor Augen führen zu lassen, wie viele Spezialfunktionen in unser Gehirn eingebaut sind, damit wir den unpersönlichen Materialismus der unbelebten Natur gewissermaßen mit seinen eigenen Mitteln umgehen, um nicht nur Überlebensvorteile, sondern schließlich auch eine hohe Lebensqualität zu erreichen. Gerade weil alles mit rechten (kausalen) Dingen zugeht, ist das Gehirn auch aus dieser Perspektive ein Wunderwerk. Ob es außerdem eine metaphysische Ebene zum Beispiel für den Glauben gibt, brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht zu erörtern.

Die Diskussion um den freien Willen ist nicht rein akademisch. Eine konkrete Konsequenz dieser Überlegungen besprechen wir in Kapitel 7. Nicht nur ererbte Anlagen haben ein großes Gewicht für die Verhaltenssteuerung des Menschen, sondern ganz entscheidend auch vermittelte und gelernte Lehrinhalte. Als zentrale Schaltfunktion werden wir die – ebenfalls zu lehrende – Verantwortung diskutieren. Wenn das denkende Gehirn mit diesem "Prinzip Verantwortung" die Gesetze und Regeln der Gesellschaft verinnerlicht und zu seiner Grundhaltung macht, hat es das Adjektiv "ethisch" verdient. Das wirft ein Schlaglicht auf die gewaltige Bedeutung der lebenslangen ethischen Bildung aller Mitglieder der Gesellschaft. Ihre Charakterfestigkeit muss in der Kindheit zuverlässig geprägt und im weiteren Leben ständig trainiert werden.

Im letzten Kapitel 8 können dann die Vorstellungen von Schuld und Strafe sachgerechter präzisiert werden. Alle diejenigen, die einen freien Willen unterstellen, leiten daraus eine "moralische" Schuld eines Täters an fast allen Straftaten ab und fordern entsprechend eine "gerechte" Strafe (im Diesseits und/oder im Jenseits). Wer andererseits von einem durchgängigen "harten" Determinismus ausgeht, kommt zu dem Schluss, dass der Täter eigentlich keinen Einfluss auf sein Handeln haben konnte, dass er selbst also keine Schuld hatte, und dass Strafe folglich ungerechtfertigt ist, sofern man sie nicht als Mittel zur Abschreckung oder Erziehung versteht. Entsprechende Überlegungen finden sich in der modernen Justiz allenthalben. Die Konsequenzen der Anerkennung eines radikalen Determinismus wären weitreichend. Die Justiz wacht im Auftrag der Gesellschaft darüber, dass die Rechte aller Bürger gewahrt werden. Wenn nun kein Übeltäter mehr selbst schuldig wäre, weil sein Verhalten ja vorbestimmt war, müsste man ganz neue Wege finden, um unser aller Rechte zu schützen.

Wenn wir nun als dritte Konzeption annehmen, dass das ausgewachsene Gehirn des Menschen selbst ursächlich wirksame Gedankenkonstrukte produzieren und daraus solche auswählen kann, die seinem Verhalten dienlich zu sein scheinen, dass das "ethische" Gehirn des Individuum also Verantwortung haben und einen eigenen Willen entwickeln und realisieren kann, dann muss auch die Schuldfrage entsprechend differenziert gesehen werden. Nicht schuldfähig ist dann nur derjenige, der (noch) keine ausreichende Belehrung über sozialverträgliches Verhalten bekommen hat, der eine solche mangels ausreichender rationaler Fähigkeiten nicht nutzen konnte, oder der ausschließlich triebgesteuert handelte, der seine intrinsischen Antriebe also  nicht rational kontrollieren konnte. Man wird das bisherige "Freiheitspostulat", das die Notwendigkeit eines freien Willens für den Schuldbegriff zum Ausdruck brachte, exakt und pragmatisch durch ein "Verantwortungspostulat" ersetzen.

Wir werden in Kapitel 8 ausführlich begründen, dass künftig auf die gesellschaftskonforme Gewichtung von Argumenten in den Gehirnen der überführten, vielleicht sogar auch der potentiellen Täter und damit auf die Belehrung und auf die Wiedergutmachung (als Lernprozess) der Schwerpunkt zu legen sein wird. Am Prinzip der Straffähigkeit und der Strafe wird sich nicht viel ändern. Aber wie überall, wo Fortschritt stattfindet, wird man differenzierter denken und urteilen müssen. Es wird nicht mehr einfach um Schuld gehen, sondern um Wissen und Intelligenz des Täters. Aber eine Strafe kann man ihm androhen und ihn, falls seine Tat eine solche bedingt, auch zukommen lassen.

Wir werden aber auch überlegen, dass das Gefühl eines freien Willens, das jeder Mensch hat, nicht nur zu einem nutzbaren Schuldgefühl führt, sondern auch psychologische Vorteile wenigstens für sein eigenes Selbstwertgefühl hat. Auch die Gesellschaft profitiert von der gefühlten Vorstellung des Laien, dass das persönliche Wollen insoweit frei sei und dass daraus Verantwortung erwachse. Man muss diese Vorstellung also nicht überall korrigieren wollen, man muss nicht alle Leute zu einem naturwissenschaftlichen Realismus bekehren. Aber Verantwortungsträger sollten sich diese Überlegungen bewusst machen.

Wenn man von diesen pragmatischen Überlegungen absieht, braucht eigentlich niemand mehr einen autonomen, freien Willen, weder zum Einkaufen noch, um Gutes zu tun, noch zum Wählen oder zum Diskutieren. Durch Akzeptieren der Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die die Leistungen unseres Gehirns aufzeigen, besonders aber durch Vertrauen auf das Prinzip von Verantwortung und korrekter Einstellung zu Ethik und Gesetz kann jedoch das Unbehagen gegenüber dem Determinismus völlig in den Hintergrund gedrängt werden, auch wenn er eine ernst zu nehmende Konsequenz der Kausalität bleibt.

Wir werden aber sicher zu dem Schluss kommen, dass eine wirksame Reform und Intensivierung der ethischen Aus- und Weiterbildung unbedingten Vorrang hat, ob man nun an einen freien Willen glaubt oder das neurowissenschaftlich begründete Prinzip des eigenen Willens verstanden hat.

Für guten Rat danke ich ganz besonders Herrn Dr. Werner Payer und Herrn Hansjörg Weitbrecht. Für die bewährt kritische Durchsicht des Textes bin ich Herrn Kurt Hoffmann sehr dankbar. Geholfen haben mir in vielerlei Hinsicht meine Schwester Dr. Sigrid Pfitzner-Seidel, meine Kinder, mein Schwiegersohn Dr. Oliver Kociok und als stete, nicht hoch genug einzuschätzende Unterstützung meine liebe Frau Vita.

 

 

Schlussbetrachtungen

"Das ethische Gehirn": Die Kurzform drückt aus, dass das Gehirn großartige und selbst ethische Leistungen konzipieren und veranlassen kann, weil es zu denken und zu wollen vermag.

Das Gehirn und damit der Mensch kann (theoretisch) alles wollen, was sein Verstand oder seine Phantasie sich vorstellt, und er kann so viel von diesem Wollen später in Handeln umsetzen, wie sich mit der Realität verträgt. Der Mensch kann nicht selbst fliegen, aber er kann fliegen wollen und er kann sich das nötige Zusatzgerät konstruieren. Sein Wille ist praktisch frei. Diese Fähigkeit zu wollen galt es darzustellen – natürlich unter der Bedingung der Kausalität.

In der Gesamtheit ist diese Leistung des Gehirns so gewaltig, dass gerade die größten Denker sie als eine Art Geist Gottes aufgefasst haben. Sie haben der Evolution, also der Natur, eine derartige Entwicklung nicht zugetraut. Die Bewunderung bezieht sich nicht nur auf das Wollen, aber ihm kommt eine zentrale Bedeutung zu in der geistigen Welt.

Die Menschen sind sich seit Jahrtausenden ihrer geistigen Kraft bewusst. Probleme gab es allerdings, als man sich das Funktionieren dieses geistigen Wollens vorzustellen versuchte angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnis von der uneingeschränkten Gültigkeit der Kausalität und des daraus folgenden Determinismus. Schon der bloße Gedanke an die Vorbestimmtheit allen Geschehens einschließlich des menschlichen Denkens brachte die Freiheitsliebenden auf die Suche nach übernatürlichen Freiheitsgraden für den Geist. Beachtliche indeterministische Gedankengebäude wurden in theologischen und philosophischen Debatten errichtet und ständig umgebaut.

Wenn man viele Jahrhunderte des Nachdenkens zusammenfasst und von polemischen Seitenhieben absieht, hat die Philosophie das Problem aufgezeigt und aus allen denkbaren Perspektiven analysiert, wie es sich aus den dualistischen Vorstellungen über das ethische Wollen auf der metaphysischen Ebene einerseits und dem wachsenden Erkenntnisvolumen auf der physischen Ebene andererseits ergab. Ein strammer Determinismus, der nicht alle verfügbaren Erkenntnisse der Psychologie berücksichtigt, konnte keine praktikable Antwort der Naturwissenschaft sein, das zeigte sich besonders beim Versuch der Anwendung in der Jurisprudenz.

Ich bin überzeugt, dass jetzt genügend Daten aus den Neurowissenschaften und insbesondere aus der empirischen Psychologie vorliegen, um diese dualistische Diskrepanz aufzulösen. Auf dieser Basis habe ich versucht, eine Reihe aufschlussreicher Erkenntnisse in eine zweckdienliche Reihenfolge zu bringen. Ich will dabei den Dualismus von geistig-seelischer und physisch-realer Ebene, also das Leib-Seele-Konzept, nicht aufheben, denn für religiöse Lehren ist ein Dualismus notwendig. Ich habe nur den Willen, die Verantwortung und Anteile der Ethik aus der Metaphysik herausgelöst, soweit sie offensichtlich Phänomene der realen Welt sind.

Ich stehe natürlich zur Kausalität und ich akzeptiere gemäß dem heutigen Erkenntnisstand die Determiniertheit. Meine Ausführungen dürfen auch nicht als Kompatibilismus missverstanden werden. Ich wollte zweierlei aufzeigen: Zum einen gewähren die biologischen Gesetzmäßigkeiten dem Individuum so unvorstellbar viele Möglichkeiten für persönliche Einflussnahme, dass die Vorbestimmtheit als theoretisches Konstrukt hinter der Vielfalt der Manipulierungsmöglichkeiten zurücktritt und in dieser Hinsicht vernachlässigt werden könnte. Zum anderen erfordern diese Naturgesetze, dass das Individuum seine Freiheiten auch nutzt. Es setzt seinen Verstand mehr oder weniger aktiv ein, vor dem Handeln und auf mehr oder weniger sozialverträgliche Weise.

Die naturgesetzlichen Weichen sind so gestellt, dass jeder Mensch mit seiner Zeugung in einen determinierten Entwicklungsprozess eingefügt wird, den er trotz aller Willenskraft nicht aufheben kann. Aber die gewaltige Zahl der Nervenzellen des Gehirns, die riesige Zahl von Verbindungs- und Kombinationsmöglichkeiten dieser Zellen und die astronomische Zahl von verschieden Molekülen, die zwischen und in diesen Neuronen interagieren, sind auf dem Wege der Phylogenese in neue, biologische Gesetzmäßigkeiten eingebunden, die vielseitige, aber geordnete Freiheitsgrade ermöglichen.

Absolute Freiheit wäre etwas anderes. Freier Wille hätte eine Tendenz zu Willkür, Wahrscheinlichkeit, Zufall. Auch biologisch, also aus der Perspektive der Evolution gesehen, wäre es nachteilig, wenn der Mensch überhaupt die Fähigkeit hätte, irgendeine Alternative völlig frei zu wählen. Er würde zu viele Fehler machen. Das materialistische Konzept vom eigenen Willen zwingt demgegenüber zur Wahl der besten Alternative. Allerdings muss diese dafür sorgfältig als solche gekennzeichnet sein. Dabei helfen zunächst einmal die emotionalen Marker.

Durch die Möglichkeit, die vorhandenen Kausalitäten emotional zu werten und zu gewichten, wurde schon vor Jahrmillionen (bei den Tieren) mit dem Entstehen und der Weiterentwicklung von Gehirnen eine neue Verfahrensweise im Ursache-Wirkung-Geschehen in der Natur erreicht. Individuell vorteilhafte Handlungsoptionen können dadurch bevorzugt genutzt werden. Man kann sagen, dass mit dieser Fähigkeit zum subjektiven Gewichten ein neues Naturgesetz entstand, das das Wählen zwischen verschiedenen Kausalbedingungen ermöglicht und damit die Überlebenschancen der Besitzer von Gehirnen mit entsprechend hohem Organisationsgrad um eine ganze Dimension steigert. Man könnte von einer angeborenen Form des Egoismus sprechen. Die optimale, unter den aktuellen Umständen besonders vorteilhafte Verhaltensweise zu kalkulieren und umzusetzen ist fortan der Hauptzweck von Gehirnen.

Der Effekt wird verstärkt durch intrinsische Motivationen besonders in Form der Triebe bzw. der angeborenen Bedürfnisse. Sie treiben Tier und Mensch, aktiv zu sein, und generieren damit einen entscheidenden Teil des Wünschens und Wollens. Neugier und Risikofreude wurden als die stabilsten Charaktereigenschaften beim Menschen ermittelt. Damit entsteht ein weiterer individueller Psychomechanismus zur Durchsetzung des eigenen Vorteils, aus der Sicht der Evolution wieder ein "Vorteil für die eigenen Gene".

Damit ist auch das aktive Bemühen um zweckmäßiges Verhalten, das Suchen nach dem rechten Weg, nach Erfolg und Lebensfreude ein konstitutiver Teil dieses "biologischen Kausalsystems", in dem wir leben und von dem wir profitieren. Die zerebralen Mechanismen einer Vorteile gewährenden "Kausalselektion" funktionieren also nur, wenn man ihre Regeln auch aktiv einsetzt. Dieser aktive Einsatz wird ebenfalls gefördert durch das Gewissen, das als Verstärker besonders der sozialen Vorgaben wirkt. Zum "Programm" der phylogenetischen Gehirnentwicklung gehört offensichtlich nicht nur der blanke Egoismus und der Fortschritt, sondern auch Einsicht und Weisheit.

Wir haben uns verdeutlicht, dass die Fähigkeit zum Denken und zum virtuellen Planen in die Zukunft keine absolute, aber eine interessante "Art von Freiheit" eröffnet im Vergleich mit der strikten Kausalität der unbelebten Natur. Alles wird denkbar durch freies, allerdings assoziierendes Kombinieren vorhandener Gedankeninhalte. Die ganze Welt scheint nun manipulierbar, große Teile werden es tatsächlich.

Wir haben in diesem Zusammenhang gesehen, dass es Argumente gibt, das Bewusstsein in einer gehobenen Rolle zu sehen. Gefühlsmäßig scheint es die oberste Befehlszentrale des Gehirns zu sein, die entscheidet und die Ziele ausgibt. Es wird aber wahrscheinlicher, dass die Entscheidungen selbst in untergeordneten Netzwerken des Gehirns errechnet werden, während im "Vorstellungsraum" die gegenüber den Tieren höhere und grundsätzlich neue Funktion des bewussten logischen Planens und der sprachlichen Kommunikation angesiedelt ist. Sie eröffnet gewaltige Räume, Experimentierbereiche, in denen mit den Bausteinen der deterministischen Welt jongliert werden kann. Das virtuelle Erstellen von künftigen Szenarien oder das gedankliche Rekapitulieren und die taktische Neukombination von Gedächtnisinhalten bedeuten grenzenlos erscheinende mentale Bewegungsmöglichkeiten.

 Das Selbstbewusstsein schließlich beurteilt dieses Können aus höchster Warte. Es imponiert als eine Direktionskompetenz für das Denken in diesem "Vorstellungsraum", vermittelt das Empfinden des souveränen Schalten-und-Walten-Könnens. Ein sehr leistungsfähiges Erinnerungsvermögen unterstützt eine zielgerichtete, sogar eine sozial angepasste Verhaltensplanung. Das daraus resultierende Wollen erfährt nur eine unüberwindbare Grenze durch die Naturgesetze. Immerhin wird der konkrete Bewegungsraum mit technischen Mitteln ständig erweitert.

Die Fähigkeit zur Weitergabe an andere Artgenossen mittels Sprache erweiterte für den Menschen die Möglichkeiten vorteilhaften Verhaltens noch einmal um eine quantitative Dimension und stellte damit wiederum eine neue biologische Naturgesetzlichkeit dar, die die Determiniertheit variieren und relativieren kann. Sie ermöglichte die Schaffung eines "kulturellen Überbaus", erweitert sozialverträgliches und insbesondere auch altruistisches Entscheiden und Verhalten.

In Anbetracht der beachtlichen Chancen, die sich für den Menschen mit seinem hochentwickelten Gehirn aus dem intelligenten (egoistischen) Umgang mit der Kausalität ergeben, sollte der Determinismus viel von seinem Schrecken verlieren. Erfolg, Selbstwertgefühl und Lebensqualität entspringen dieser geschickten Nutzung. Ein freier Wille muss also gar nicht unbedingt gefordert werden. Der eigene Wille bietet ausreichende Möglichkeiten, findet lediglich in den Naturgesetzen die schon aufgezeigte Grenze.

Die Vorstellung von einem eigenen Willen, wie er von mir hier definiert wird, finden wir bei genauerem Hinsehen als festen Bestandteil der Alltagspsychologie: Jedermann wendet die Redeweise "ich will" in der Überzeugung an, dass er seine Gründe für dieses Wollen hat, dass er im Vorfeld die Ursachen geprüft und die Motivation für angemessen eingestuft hat. Er kalkuliert einerseits ein, dass er in die Kausalität ganz selbstverständlich eingebunden ist, dass diese also stets und überall gilt, und setzt andererseits mit einem großen Vertrauen darauf, dass er große Möglichkeiten hat, in dieser Welt grade seine Vorhaben durchzusetzen und letztlich seine Ziele zu erreichen.

Die Realisierung des Gewollten ist nur möglich in einer arbeitsteiligen Gemeinschaft. Die unschätzbaren Vorteile einer Gesellschaft erfordern allerdings eine Regelung des Zusammenlebens ihrer Mitglieder durch Gebote, Gesetze, Anordnungen. Ethik muss dem persönlichen Egoismus entgegengesetzt werden. Sie bedeuten eine zweite Grenze für das zu neuen Zielen strebende Wollen.

Diese zweite, durch die kollektiven Einsichten der Mitglieder aufgebaute Grenze ist zwar normativ gesetzt, aber in ihrer Schriftform durchaus real. Sie garantiert dem individuellen Wollen einerseits Rechte und Freiheiten, erfordert aber auch Rücksichtnahme auf die Rechte der anderen. Die Etablierung der Gebote und Pflichten in den Gehirnen aller Mitglieder erfolgt durch Lehren und Lernen. Es werden kausal wirksame Gedächtnisinhalte eingefügt, die jedem Gehirn letztlich ethisch akzeptable Entscheidungen ermöglichen.

Die möglichst generelle Anwendung der (ethischen und sachlichen) Anordnungen der Gesellschaft wird mit Hilfe des Prinzips Verantwortung angestrebt. Auch dieses Postulat muss gelehrt und gelernt werden. Das Gelernte ermöglicht jedem Einzelnen, in seinem Wollen die ethischen Gebote der Gemeinschaft zu berücksichtigen. Zuwiderhandeln erzeugt ein schlechtes Gewissen und reale Schuld. Der eigene Wille ist dadurch gekoppelt mit einem Wissen über die eigenen moralischen Fehler.

Mit der Gesetzgebung der Gesellschaft bis hinein in die ethische Dimension habe ich einen Teil der Ethik als eine durchaus "irdische" Angelegenheit deklariert. Damit soll nicht verkannt werden, dass es bei der Vorgabe ethischer Gebote eine sehr fruchtbare "Interessengemeinschaft" zwischen den Glaubenslehren und der weltlichen Gesellschaft gab und gibt. Diese will ich mit meinen naturwissenschaftlich geprägten Überlegungen auf keinen Fall aufkündigen. Letztlich sind es alles verantwortungsbewusste Menschen, die sich sowohl auf der weltlichen wie auf der weltanschaulichen, transzendentalen Schiene um ein ehrenwertes und/oder gottgefälliges Verhalten bemühen, bei sich selbst und bei anderen.

Da die Gemeinschaft auf das Einhalten ihrer Regeln sehr real angewiesen ist, hat sie einerseits die Verpflichtung, diese Regeln in wirksamer Form in die Gehirne aller Mitglieder zu pflanzen. Gegenüber Mitgliedern, deren Wollen dennoch nicht diesen Vorgaben folgt, hat sie (wieder gemäß einem entsprechenden Konsens der Mitglieder) dann aber auch das Recht, die Nichtbeachtung zu ahnden. Sie muss alle Täter, die von ihrer Verantwortung nicht ausreichend Gebrauch machen, einem nachhaltigen Läuterungs- und Belehrungsprogramm unterwerfen. Parallel hat die Gesellschaft die Pflicht, ihre Mitglieder vor den Missetätern mit ihren nicht sozialgerecht funktionierenden Gehirnen zu schützen.

Allerdings müssen wir angesichts der geschilderten "neuen" Naturgesetze der Phylogenese eines festhalten: kausal sehr wohl bedingt ist der natürliche Egoismus eines jeden, und der trägt meist erheblich zum Fehlverhalten bei. Der gewaltige biologische Drang zum persönlichen Vorteil dominiert alle anderen Kausalgesetze, und zwar im individuellen wie auch im globalen Bereich. Der Mensch nützt die Möglichkeiten der Vorteilsnahme bis zur Gefahr der Selbstvernichtung. Den überbordenden Egoismus gilt es einzudämmen mit Hilfe des Verstandes.

Dem Menschen ist mit seinem Verstand sogar die Verpflichtung erwachsen, Gegenstrategien, die längst von der Gesellschaft, ohne die er nicht existieren kann, entwickelt wurden, nachhaltig einzusetzen. Seit Jahrtausenden bestehende Gebote und Gesetze gründen auf der Möglichkeit der Gehirne, auch sozialverträgliche oder gar altruistische Argumente zu lernen, nachhaltig zu gewichten und sie im entscheidenden Augenblick zweckmäßig einzusetzen.

Betrachten wir das Problem abschließend von der hohen Warte der Evolution: Die Natur hat mit dem menschlichen Gehirn eine Möglichkeit zur Neukombination von vorhandenen Faktoren geschaffen, die diejenige in der Genetik weit übertrifft. Sehr viel mehr neuartige Variationen können in viel kürzerer Zeit mit dem Verstand gedacht und auch realisiert werden als durch Mutation und Zellteilung auf der Basis der Genetik.

Aber das beschert auch Probleme: Offensichtliche Fehler bei der Neukombination führen in der Genetik zum Tod des Produkts: Der Fehler wird getilgt. Nicht so bei der Generierung von falschen Gedanken. Gedankliche Fehlentwicklungen zerstören sich nicht selbst. Sie können sich sehr nachteilig und gelegentlich global auswirken, wie jeder weiß. In der Gedankenwelt sind nur korrigierende Gegengedanken zum Heilen von Fehlentwicklungen möglich. Nur mit positiver Geisteskraft lässt sich der Nachteil des Egoismus neutralisieren. Noch bleibt die Jahrtausende alte Hoffnung, dass das "mentale Programm" der Natur über den gewaltigen zivilisatorischen Fortschritt, von dem wir alle profitieren, hinaus letztlich zu einem Überwiegen verantwortungsbewusster Einsicht und Weisheit führen könnte: Mit dem eigenen Willen der Menschen!

Wir sind am Schluss meiner Überlegungen angelangt, und ich muss mich nun fragen, was sie letztlich gebracht haben.

  • Wahrscheinlich konnte ich in einem Jahrhunderte währenden Disput um den freien Willen und den Determinismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften eine Brücke bauen. Reichlich Detailarbeit bleibt zwar noch. Aber sollte sich die Brücke als tragfähig erweisen, könnte man dieses wichtige Thema hinter sich lassen und dringendere Fragen unserer Zeit in Angriff nehmen.
  • Für die Menschen im Alltag ändert sich kaum etwas. Sie denken ohnehin im Sinne ihres eigenen Willens. Nur derjenige, der über sein Wollen Genaueres wissen möchte, kann nun komplizierte, aber fundierte (neurowissenschaftliche) Erklärungen finden.
  • In der Jurisprudenz kann man aufatmen. Das unbequeme Schreckgespenst des Determinismus ist entlarvt und bis zum Vernachlässigen zurückgedrängt. Im Prinzip jedenfalls führt der eigene Wille zu gleichen Konsequenzen hinsichtlich Schuld und Strafmaß wie der freie. Viele Einzelfragen der geforderten Belehrung habe ich offen gelassen. Die Fachleute werden praktikable Lösungen finden.
  • Im Erziehungssystem schließlich renne ich offene Türen ein. Vielleicht habe ich aber einige schlagkräftige Argumente geliefert für den ständigen Kampf um ausreichende Ressourcen speziell für Erzieher und Ausbilder. Denn das eigentliche Problem, das sollte klar geworden sein, liegt hier, liegt jetzt und in absehbarer Zukunft in der Implementierung einer zuverlässigen und nachhaltigen ethischen Einstellung bei einer genügend großen Mehrheit der Menschen.

Und das Problem wird größer. Hier wirksame Maßnahmen zu konzipieren und umzusetzen ist eine gemeinsame Aufgabe für Geistes- und Naturwissenschaften. Sie ist es für Philosophen und Juristen, für Pädagogen und Psychologen, für Neurologen, Pharmakologen und viele andere Disziplinen, auch für Politiker.

Längst weit offene Türen renne ich ein. Alle sind eingeladen, mitzugehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Erklärung

Siehe zur Determiniertheit auch meine Stellungnahme im Schlusskapitel dieses Buches.

Erklärung

Da der Mensch denken und planen kann, wachsen ihm gewaltige Fähigkeiten in Hinsicht auf die Beeinflussung der Kausalität zu. Er kann sich sein künftiges Handeln gemäß persönlicher Preferenzen ausdenken. Er kann diese Wünsche im Gedächtnis ablegen und mit starken emotionalen Markern belegen. Wenn er einen derartigen Plan bei entsprechender Gelegenheit aus dem Gedächtnis abruft, kann der zur entscheidenden Ursache für sein Handeln werden. Scheinbar hat er die Ursache für sein Handeln selbst erzeugt. Aber nur scheinbar: Seine ursprünglichen Präferenzen waren irgendwie determiniert, also durch andere frühere Ursachen bedingt. Aber sie gereichen ihm zum Vorteil!.

Erklärung

“Das Bewusstsein” ist noch nicht ausreichend verstanden. Es gibt sehr viele Versuche einer Erklärung. Es ist sicher mehr als der Wachzustand. Der Arzt prüft, ob jemand “ansprechbar“ ist, also auf lauten Zuruf oder auf Kneifen reagiert, und dann muss er feststellen, ob der Patient örtlich, zeitlich und in Bezug auf die eigene Person orientiert ist.. Sonst bezeichnet er das Bewusstsein als eingeschränkt oder gar den Patienten als “bewusstlos”. Manche Autoren rechnen sogar Funktionen wie Gedächtnis und Intelligenz zu Bestandteilen des Bewusstseins, während für andere nur das Empfinden des “Ich” bezeichnend ist.

Erklärung

Zum Problemkreis Verantwortung finden Sie weiter unten im Schlusskapitel des Buches noch einige Gedanken.

Ausführliche Betrachtungen zu Verantwortung in Verbindung mit Schuld und Strafe  habe ich  der Neuen juristischen Wochenschrift zur Veröffentlichung angeboten.

Kommentar

Das Freiheitspostulat, auf dem die heutige Rechtsprechung noch ganz überwiegend beruht, geht davon aus, dass der Mensch einen autonomen, also freien Willen habe. Er habe anstelle der Straftat (unter völlig gleichen äußeren Bedingungen) auch anders handeln können. Wenn man wie ich überzeugt ist, dass es einen solchen freien Willen nicht geben kann, muss man die Schuld und die Strafe anders begründen. Ich führe im Buche aus, dass der Straftäter die ethischen Regeln nicht ausreichend verinnerlicht hatte, insbesondere kein ausreichendes Verantwortungsgefühl hatte und dies folglich im Rahmen seiner adäquaten Freiheitsstrafe nachlernen muss.

Erklärung

Die Gesellschaft muss ihren Mitgliedern die Umgangsformen und die ethischen Regeln lehren, zum Beispiel zur Befolgung des Rechtssystems, aber auch zu Werten wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft usw. Sie müssen nicht nur gelernt, sondern verinnerlicht werden, Der Verstand muss sie als sehr wichtig bewerten, sie müssen auch den emotionalen Marker tragen: “das finde ich sehr wichtig”. Dann können sie verstärkend in die Entscheidungen eingehen, also befolgt werden. Es werden positive Einstellungen zur Gesellschaft und zum Verhalten generiert. Zu diesen Einstellungen gehört auch die Verantwortung. (siehe hierzu auch in Schlusskapitel).

Erklärung

Ich schmeichle mir allerdings, dass ich die offenen Türen besser kenntlich gemacht habe. Keiner sollte mehr sagen, er habe die Türen, also die Möglichkeiten übersehen, er habe nicht um die Probleme und einige Lösungsmöglichkeiten gewusst.

Da gilt vor allem bezüglich des Lehrens und Lernens von ethischen Regeln. Viele haben sich in Jahrtausenden darum bemüht.

Skeptiker haben Unrecht wenn sie sagen, die vielen Philosophen und Pädagogen hätten keinen Erfolg gehabt, die Menschen seien heute so schlecht wie vor 2.000 Jahren. Einerseits weiß keiner, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn sich nicht so viele redlich  um soziale Kompetenz bemüht hätten. Und sicher ist andererseits: Ethik wird nicht vererbt. Sie muss jeder Generation wieder neu gelehrt werden.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seidel, Sindelfingen

Konzepte zur emotionalen Kompetenz

Leseprobe aus "ethisches Gehirn"

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Stichworte

Viele Stichworte wurden mehrfach behandelt . Zusätzliche Informationen erhält man durch anklicken von “ X”

 

Abwägen

Alter, gefühltes

Angst

Arbeitsspeicher

angeborene Bedürfnisse; X

Automatismen

Begabung

Belohnungszentrum

Berufswahl; X

Bewertungssystem; X

Bewusstsein

Burnout-Syndrom

Burnout, Vorbeugung

Charakter

Depression; X

Determinismus

Egoismus

eigener Wille

Einstellungen; X; X

Emotionen, primäre; X

emotionale Intelligenz; X

Empathie; X

Empfindungen

Entscheidung

Erfahrung; X

Ethik

Flow

freier Wille

Führungsfehler; X

g-Faktor

Gefühlsqualität

Gehirnschäden

Gewichtung

Gewissen

Innere Emigration; X

Intelligenz; X; X

Intelligenz, interpersonale

Körpergefühl

Kompetenz, X; X

Kommunikation

Lebensqualität; X

Lernen; X

Marker, emotionale; X

Marshmallow-Test

Menschenkenntnis

Motivation, gerichtete; X

Motivation, ungerichtete

multiple Intelligenz

Optimismus; X; X

Persönlichkeit

Reflex

Selbstbeherrschung; X; X; X

Selbstkritik

Selbstwertgefühl

Soziale Kompetenz; X

Soziopsychologie

soziale Stile

Spiegelzellen; X

Stimmung; X; X

Stress; X

Subjektivität, X;